Sonntag, 14. Dezember 2014

Es war einmal

- ein Bauernhof -


Hinter den Bergen, da ist Afrika - und sitze ich auf der Schaukel, bin ich schneller dort... 

Es war im Sommer 1957 oder 1958 als ich, als Dreikäsehoch, zum ersten Mal Bekanntschaft mit einem Bauernhof schloss.
Natürlich hatte ich, am Stadtrand einer größeren Stadt lebend, bereits Hühner und auch den dazugehörigen Hahn kennen gelernt; auch war mir wohlbekannt, dass ein respektvoller Abstand zu Schnabel und Schwingen der imposanten Schwäne sehr zu empfehlen ist. Bei uns auf der Wiese war auch ein Bauernhof, das wusste ich, weil mir nämlich erklärt worden war, dass dies ein Bauernhof sei. Als Bauernhof betrachtet man also ein großes Backsteinhaus, in das man mit einem großen und hohen Ungetüm, wie zum Beispiel einer großen Dampfwalze, hineinfahren konnte. Und Dampfwalzen waren groß, das konnte ich jeden Tag auf unserer Straße bewundern. Ansonsten verfügt ein Bauernhof über einen großen Platz in der Mitte, wo man traumhaft spielen konnte.  Die Trauerweide im inneren des Hauses war aber nicht so traurig, wie die Trauerweide bei dem Haus am anderen Ende unserer Straße, dessen Fenster noch verdunkelt sind.

Aber zurück zu dem Bauernhof, den ich 1957 (-oder 1958) kennen lernte. An einem Sonntag packte mein Vater seine kleine Familie in den Käfer und wir brachen zum Riedhäuserhof auf, der bereits kurz hinter Wolfskehlen über das flache Ried zu erkennen war.

Mein Vater biegt von der Straße auf einen Feldweg ab, der Käfer holpert über große Steinplatten, bis wir vor dem einsamen Haus anhalten, das am Ende einer langen Mauer steht. Der Zaun des Vorgartens mündet in ein großes Eisentor, der unverwandte Blicke richtet sich jedoch auf Gitterstäbe hinter dem Tor. Ein großer Hund, ohne Fell, läuft drohend bellend hinter den Gitterstäben auf und ab. Als wir vorsichtig durch die Pforte gehen, springt der Hund wütend gegen seine Gitterstäbe, unsere Ankunft ist nicht mehr zu verheimlichen. Dr. Edler kommt uns entgegen, begrüßt unsere Eltern auf das herzlichste. Staunend stehe ich in dem Hof, der Bauernhof der Flugwiese, den ich bislang schon einige Male umrundet habe, ist winzig dagegen. Zögernd und doch neugierig folge ich Schorschi auf Erkundungstour. Meine Fantasie sammelt Nahrung.

Im Laufe der zahlreichen folgenden Besuche lerne ich einige Tiere kennen. Mächtige Pferde, schwarz-weiße Kühe, etliches Federvieh, vereinzelt auch Schweine. Doch mit dem Hund werde ich nicht warm, auch wenn er nicht mehr so bedrohlich bellt, wenn wir kommen. Unzählige Plätze werden erkundet, weit ab von kontrollierender Gegenwart Erwachsener und ohne Pflichten, die erfüllt werden müssen. Plätze zum Träumen.

Mein Vater, obwohl in der Stadt aufgewachsen und lebend, interessiert sich für Natur und Technik, an seiner schützenden warmen großen Hand darf ich die neue Stallanlage und auch den neuen Mähdrescher besichtigen, das Scheunentor reicht nur knapp, um den Mähdrescher hindurch zu lassen.
Meine Mutter, auf dem Dorf aufgewachsen, kann dem Eigengeruch der Tiere nichts abgewinnen, auch wenn im Gutshaus nichts außer dem verlockendem Duft aus der Butterküche und dem leckeren Blechkuchen zu ahnen ist. Die Pferde und Kühe sind auf der Weide, die Stallungen in für Kinderbeine weiter Entfernung zum Wohnhaus. Damit halten wir uns aber auch ausser Sichtweite des strengen Blicks der Mutter auf.
Die Besuche auf dem großen Hof finden ein Ende.

Dafür lerne ich einen Bauernhof in Nieder-Klingen kennen. Im Winter 1960 fahren wir zum Gretsche. Gretsche hat, nach ihrer Stellung im Haushalt meiner Großeltern, einen Bauern in Nieder-Klingen geheiratet. Mein Vater will sich vorübergehend ihre erwachsene Tochter als Hilfe für meine Mutter ausleihen. Von der engen Dorfstraße treten wir durch eine niedrige Tür in das Bauernhaus ein. Das Gretsche ist eine Bäuerin wie aus dem Bilderbuch. Sieht man sie an, so ist offenkundig, dass sie zupacken kann. Ihre umfangreiche Gestalt steckt in einer graublauen Kittelschürze, aus gleichem Stoff hat sie sich ein Kopftuch gefertigt, das straff um den Kopf gebunden ist und nicht einem Haar erlaubt aus der Reihe zu tanzen. Als sie mich an sich drückt, habe ich kurz Angst in ihr zu ertrinken. Alles riecht nach Kühen und warmer frischer Milch.
Meine Großmutter und mein Vater werden in die Gute Stube gebeten, ich gehe mit dem Bauern durch die gemütliche Küche in den Kuhstall, bekomme die Kühe mit ihrem Namen vorgestellt und darf die beiden schwarz-weißen Kälbchen streicheln, Zuhause haben wir keine Tiere. Ich unterhalte mich mit den Schweinen, ich beherrsche ihre Sprache perfekt.

Irgendwann ziehen im 1. Stock neue Mieter bei meiner Großmutter ein. Neben dem Ehepaar auch noch zwei Kinder und eine vornehme Pudeldame namens Chonky. Die ganze Familie ist äußerst vornehmen, beim Reden stolpern sie über einen spitzen Stein ;-). Chonky ist kaum zu hören, nie zu sehen. Chonky war so wenig zu sehen, dass ich mich noch nicht einmal an ihre Fellfarbe erinnere, dabei hat sie fast vier Jahre bei uns gewohnt. Dies lag aber auch an Mecky, dem schwarzen Königspudel, bei dem ich öfters war. Nur einmal wird es laut, wegen Chonky. Die Sylvesterböller haben Chonky erschreckt, ängstlich zieht sie sich unter dem großen Kleiderschrank zurück. Drunter ist sie gekommen, aber unter dem Kleiderschrank hervor hat sie es nicht mehr geschafft. Also musste er noch in der Sylvesternacht ab- und wieder aufgebaut werden. Mecky, der Königspudel, war auch sehr vornehm. Stolz sah er durch die Gitterstäbe des Zauns rund um das Grundstück, die schnöde Welt außerhalb seines Territoriums ignorierte er gekonnt, vorausgesetzt er verspürte nicht den dringenden Wunsch seine langen Beine über den Zaun zu bewegen und eigenständig zu einem Spaziergang aufzubrechen.

Damit wir einen Ausgleich für die fehlenden Tier im Haushalt hatten - meine große Schwester und ich wünschten uns sehnlichst einen Hund - bemühte sich unsere Mutter redlich, uns die Pflanzenwelt näher zu bringen. Oft diente der Sonntagsspaziergang zur Überprüfung unseres Wissens. Kurze Grannen, lange Grannen, keine Grannen - das Wissen wurde von mir sorgfältig in einer verschlossenen Schublade meines Gehirns aufbewahrt. Irgendwie habe ich ständig den Schlüssel zu besagter Schublade verlegt. Es ist doch vollkommen ausreichend, wenn man Hafer und Mais auseinander halten kann.
Viele, viele Jahre später antwortete mein kleiner Neffe auf die überprüfende Frage seiner Großmutter, um welche Pflanze es sich hierbei handelt, nach kurzer Überlegung "eventuell ein anderes Pflänzchen?" Warum ist mir nur als Kind nicht solch eine treffliche Antwort eingefallen!

Mit meiner Schwester mache ich eine Fahrradfahrt zum Reitstall an den Hirschköpfen, wir werden schon erwartet. Es folgt ein unbeschwerter Nachmittag im Pferdestall und die Aufforderung, wieder zu kommen. Schon als unsere Mutter uns die Wohnungstür öffnet, noch bevor wir etwas sagen können, hat ihr ihre Nase verraten, wo wir uns am Nachmittag rum getrieben haben. Nochmals beim gemeinsamen Abendbrot erhalten wir die unmissverständliche Ansage meiner Mutter, uns nicht mehr in die Nähe des Reitstalls zu wagen.
Am Sonntag, meine Mutter muss das Mittagessen vorbereiten, führt unser Vater seine drei Kinder zum Spaziergang auf das Oberfeld. Mein Vater hält bei der Koppel von Halla an, wir sehen beim Voltigieren zu.

Kurz vor der Geburt ihres dritten Enkelkindes hatte meine Großmutter fluchtartig ihre Wohnung geräumt, auch das letzte Zimmer der wachsenden Familie ihres Sohnes überlassen. In der Mansarde hat sie ihre Ruhe vor dem Tumult der Kinderschar. Zu irgend einem Weihnachten ist es dann soweit, damit seine Mutter nicht zu einsam ist, erwirbt mein Vater in der Zoohandlung einen Kanarienvogel. Ein Harzer Roller soll es sein, ein Hahn, damit sich meine Großmutter am Gesang erfreuen kann. Das erste nicht menschliche Lebewesen hält in unserer Familie Einzug. Dem armen Vogel ist kein langes Leben beschieden, meine Großmutter liegt im Krankenhaus, der Kanarienvogel ist zu uns in die Küche gezogen. Sein Käfig steht auf dem Kühlschrank, zwischen Herd und Fenster. Gründlich lüftet meine Mutter nach dem Kochen, damit der Essensduft nicht in die Wohnung zieht. Im Winter ist es kühl, der Kanarienvogel wird beerdigt.
Irgendwie hatte sich meine Großmutter aber doch an den kleinen Kerl gewöhnt gehabt, also erwirbt mein Vater erneut einen fröhlich zwitschernden Kanarienvogel, der fortan bei meiner Großmutter lebt. Der Kanarienvogel wird von mir und meinem Freund auf den Namen Oskar getauft.
Als meine Großmutter 1974 ins Pflegeheim übersiedeln muss und ich über eine eigene Wohnung verfüge, kommt Oskar oft auf Urlaub zu mir und meinem Mann. Aber wir wollen einen eigenen Kanarienvogel und so fliegt Hugo in unser Leben. Kommt Oskar zu besuch, so wohnt er bei Hugo im Käfig. Die beiden verstehen sich blendend.
Mein Vater hat Oskar noch nicht lang wieder zurück zu sich ins Reich geholt, als ich einen empörten Anruf meiner Mutter erhalte. Ich trage die Schuld und Verantwortung, weil ich die beiden Freunde zusammen gelassen habe, hat Oskar jetzt Eier gelegt und schickt sich an diese auszubrüten. Also fahre ich zu meinen Eltern, mir die Bescherung anzusehen und die drei winzigen Eier aus dem Käfig von "Oskatrine" zu entfernen. Als Oskatrine wieder zu uns in Pflege kommt, werde ich ausdrücklich von meiner Mutter darauf hingewiesen, dass die beiden Kanarienvögel nicht mehr zusammen in einen Käfig dürfen. Und dennoch, wieder zurück in ihrer gewohnten Umgebung, legt Oskatrine wieder meiner Mutter Eier auf den Käfigboden. Dieses Mal habe ich ein schlagendes Argument, als ich gerügt werde: Hugo hatte ebenfalls Eier gelegt.
Nun, die Erfahrungen mit den Kanarienvögeln haben uns eins gelehrt, die Geschlechtsbestimmung ist angesichts der Größe des Vogels sehr schwierig. Aus diesem Grund soll es nun ein Nymphensittich sein. Natürlich ein männlicher. Fridolin zieht bei uns ein. Fridolin sorgt für Leben im Haus, seine laute Stimme ist wohl vernehmlich. Fridolin ist ein prima Wachhund und verrät jeden, der sich an unserer Dachgeschosswohnung vorbei schleichen will, um auf dem Boden zu räumen, oder Wäsche auf dem Trockenboden aufzuhängen. Fridolin ist ein munterer Geselle, ist mein Mann zuhause, darf er seinen engen Käfig verlassen und fliegt in der Wohnung umher. Zu Beginn ähnelt er jedoch mehr einem Bruchpiloten, denn einem gekonnten Flieger, er steuert die Blumenpracht in unserem Flur an. Leider handelt es sich dabei jedoch lediglich um Tapete, nicht tatsächlich um Blumen, auf denen man sich niederlassen kann. Fridolin knallt gegen die Wand und stürzt ab - rein in meinen engen Handarbeitskorb. Katzen fühlen sich ja wohl, wenn sie mit Wollknäulen spielen dürfen. Fridolin fand die bunten Fäden, die ihn umgaben weniger prickelnd, er konnte sich nicht von selbst aus seiner Fallgrube befreien.
Aber, wen wundert es, nach drei Jahren ereilte auch Fridolin sein Schicksal, aus heiterem Himmel begann er Eier zu legen.

Die Erfahrung mit den singenden und pfeifenden Vögel langte uns, als wir in unser eigenes Haus zogen kam daher als nächstes eine knallrote Ente in unseren Haushalt. Die Ente war und ist eindeutig mein Lieblings-Vogel. Meine rote Ente, es war Liebe auf den ersten Blick. Mein Schwiegervater vermittelte uns den Kontakt, wir betraten den Verkaufsraum und schon zwinkerte die Ente mir mit ihren großen runden Augen zu. Ihr war keine Schüchternheit zwischen all den anderen prächtigen Gefährten anzusehen. Der Verkäufer bot uns an, dass wir im Lager gerne noch nach anderen Enten sehen könnten, doch ich hatte meine Ente gefunden. - Für alle, die sich mit dieser speziellen Art des Federviehs nicht, oder besonders gut, auskennen, es war ein 2CV4, also mit 22 trabenden Pferdchen. - Meine Ente und ich verließen glücklich und in größter Harmonie am nächsten Tag gemeinsam ihren bisherigen Stall, unser gemeinsames Abenteuer, das über 4 Jahre währte, begann.

Borris vom Roßberg


Ein eigenes Haus mit Garten, was hier fehlt ist, neben der Ente, ein lebendes Haustier. 1977/78 werden Hunderassen in der Zeitschrift "Das Haus" von der LBS vorgestellt. Ich favorisiere zunächst einen Riesenschnauzer oder einen Collie und dann erscheint der Artikel über meinen Traumhund, eine neue Hunderasse, der Eurasier. Es vergeht nicht mehr viel Zeit, bis mein Mann und ich uns auf einen Eurasier-Rüden einigen und ich mich an die Schreibmaschine setze, um mit Herrn Nagel Kontakt aufzunehmen. Leider fordert seine Antwort Geduld von uns, der Eurasier wird ausschließlich privat gezüchtet und da die Hunderasse noch so jung ist, sie wurde erst 1964 als eigenständige Rasse eingetragen, ist er auch nicht so weit verbreitet. Doch schon im Frühjahr 1979 erhalte ich von Herrn Nagel Nachricht, die Hündin Kia vom Stechersee wurde gedeckt und, wie es der absolute Zufall so will, das Heim von Kia ist nicht nur in unserem Ort, nein Kia wohnt in unserer Straße, nur ein paar Häuser von uns entfernt.
Kia vom Stechersee mit B-Wurf
Ich darf Kia besuchen, mir den Wurf ansehen. Ich bekomme von Kia persönlich die Erlaubnis erteilt, sie gewährt mir Zutritt zu ihrer Wurfkiste, erstaunt wird es von ihrer Zweibeinerin registriert: Kia befindet mich für würdig, die Verantwortung über eines ihrer Kinder zu übernehmen. Es folgen viele Besuche bei Kia und ihren Kindern, ich sehe, wie die Welpen die Augen öffnen, neugierig die Umgebung ihrer Wurfkiste erkunden. Und ein kleiner Welpe, ihr zweitjüngster, ist ganz begeistert von mir, ich natürlich auch von ihm. Es ist Borris und bald wird er ganz bei uns sein. Irgendwie hat sich Borris nur bei der Geburt nicht so geeilt, seinen fünf älteren Geschwistern den Vortritt gelassen,
B-Wurf vom Roßberg
jetzt holt er alles nach. Er ist der erste, der die Lücke im Zaun entdeckt, er ist der erste, der beginnt seiner Mutter auf dem Kopf herum zutanzen, wenn ein Blumentopf umfällt, ist Borris nicht weit. Wäre Kia dazu in der Lage, würde sie sich wegen ihm des öfteren den Schweiß von der Stirn wischen, so überlässt sie diese Tätigkeit ihrer Zweibeinerin.
Seinem Übermut hat Borris auch seine erste Schrecksekunde zu verdanken. Noch sind die Welpen, kaum sechs Wochen alt, im Souterrain gefangen, als Borris unbedingt seiner Mutter über die Treppe in die Wohnung folgen muss. Die Treppenstufen sind fast höher, als er sehen kann, aber was seine Mutter kann, muss ihm doch wohl auch gelingen! Also nimmt er Anlauf und erklimmt die erste Stufe, hat doch geklappt, auf zur nächsten Stufe, auch geschafft, ganz schön anstrengend, weiter geht's. Nochmals etwas Schwung holen und auf zur dritten Stufe - huch ist das glatt - Maamaa!! Sein entsetztes aufheulen und anschließendes Winzeln lässt die menschliche Familie anrennen. Borris rutscht mit viel Schwung über die dritte Treppenstufe um dann auf der anderen Seite der Stufe in den Abgrund zu stürzen. Borris fällt von der offenen Wendeltreppe wieder zurück auf den harten Boden, bleibt wo er hingefallen ist schreiend liegen. Kinder!
Bald ist es soweit, Borris tanzt seiner Mutter so heftig auf der Nase herum, dass mich die Züchterin dringend darum bittet, ihn früher als ursprünglich geplant zu übernehmen. Also wird die Ente gesattelt und nur wenige Stunden später - irgendwie hatten wir uns bei Kaffee & Kuchen verplaudert - musste Borris auf eigenen Pfoten sein neues Heim erkunden. Oh ja, auf eigenen Pfoten. Jetzt musste sich beweisen, wer über den grössere Starrkopf von uns beiden verfügte. Ich war mit meiner Ente in die Garage gefahren und damit wurde Borris im Keller mit seinem neuen Heim bekannt gemacht. Mit Keller assoziert man sofort eine Treppe: Borris folgte mir auf den Fersen bis zur ersten Stufe, um sich dort in eine Häufchen Elend zu verwandeln. Treppen sind gemein und hinterhältig, lassen einen in den Abgrund fallen, das war im bewusst und so saß Borris vor der Treppe, weinte, bettelte und jammerte, dass endlich jemand kommen sollte, um ihn zu erlösen, denn schon lange saß ich nicht mehr auf der obersten Treppenstufe, um ihn hoch zu locken. Auch erschienen wir nicht mehr in kurzen Folgen hintereinander, einmal mein Mann, dann wieder ich, um ihn zu uns zu rufen.
Endlich konnte er mich davon überzeugen, dass ich wieder zu ihm runter in den Keller kam, aber anstatt ihn auf den Arm zu nehmen und hoch zu tragen, was mache ich blöde Zweibeinerin, stelle ihn einfach auf die unterste Stufe und verschwinde wieder nach oben herzlos auffordernd, dass das arme Hundekind mir folgen sollte, schließlich waren die Stufen im Garten bei Kia höher gewesen, die er mühelos hoch und runter gerannt war. Wir sind schon fast beim Abräumen des Abendbrot-Tisches als kein Ton mehr von Borris zu hören ist, dafür leises Tapsen, er hat die Kellertreppe bezwungen umrundet stolz den Esstisch, um sich dann ungestört unter den Tisch zurück zu ziehen und den Teppichboden einzuweihen.
Borris ist ein kleines Sensibelchen, lässt sich mit den einfachsten Mitteln zurückhalten. Leider hat es nicht geklappt, dass wir pünktlich zu seinem Einzug bereits über einen Gartenzaun verfügen, als haben wir kurzer Hand einen Maschendrahtzaun um unsere Terrasse aufgestellt. Die Terrassentür vom Wohnzimmer steht weit auf, wir sitzen auf unserer Terrasse, doch Borris mag nicht zu uns kommen. Der Grund sind seine empfindlichen Pfötchen, die die Berührung mit dem Gitter des Kellerfenster-Schachtes scheuen. Erst als ein Holzbrett über dem Gitter liegt, spaziert Borris munter raus und rein.
Borris auf der Terrasse Anfang September 1979
Natürlich bietet der Zaun dem neugierigen Welpen nicht viel Widerstand, geschickt beult er ihn innert kürzester Frist aus und entwickelt sich schnell zu einer leidenschaftlichen Wühlmaus, seine erdige Schnauze verrät ihn.
Nach 14 Tagen ist es soweit, ab sofort darf Borris wieder an Kias Seite seinen mittäglichen Spaziergang unternehmen.
Längst hat er sich an Halsband und Leine gewöhnt, ist absolut Stubenrein und folgt mir, außer zur Arbeit, auf Schritt und tritt. Ich bin stolz auf meinen Hund, am Abend darf er zum ersten Mal mit zum allwöchentlichen Abendessen in den Hessischen Hof kommen. Und weil ich so stolz auf Borris bin, gehe ich am Nachmittag noch rasch ein Echt-Leder Halsband und eine schwere dazupassende Leine kaufen. Mein Vater hat ein Dauer-Abo auf einen Ecktisch, jeden Freitag um 20 Uhr und wer von der Familie verfügbar ist, nimmt an dem freitäglichen Ritual teil - und zwar gerne. Und so sitzen wir auch dieses Mal zu sechst am Tisch, ich wie immer auf der Bank, Borris hat sich friedlich unter meinen Sitzplatz verzogen, kein Laut lässt darauf schließen, dass er anwesend ist. Als ich auf die Toilette muss, übergebe ich meinem Mann die Leine, doch komme ich nicht weit, als Frau Fischer zu lachen anfängt. Ich drehe mich um und entdecke Borris, der mir folgt. Borris hat seine funkelnagelneue Leine in handliche 5 cm Abschnitte geteilt, mein Mann hält ein hundeloses Leinenende fest in der Hand. Soviel zur teuren Anschaffung einer robusten Hundeleine.
Überhaupt entwickelt Borris im Laufe seines Lebens eine eigene Einstellung zur Leine. Auf jeden Fall ist er der Herr über die Leine, schließlich hat die Leine ihm zu dienen und nicht ihn zu gängeln. Überwiegend kann man seine Leine mit dem kleinen Finger halten, überwiegend. Es gibt in seinem Leben jedoch Ereignisse, die ihn dazu veranlassen, auf seine persönliche Art und Weise zu reagieren. Nur durch drei Häuser von uns getrennt, verläuft die Bahnlinie zum örtlichen Bahnhof. Die Gleise liegen verborgen unter dem für Bahndämme typischen Gestrüpp, das das Gleisbett schon nach kurzer Zeit erobert, wenn keine Züge mehr fahren. Der Bahnhof ist seit Jahren stillgelegt, genauso die Bahnstrecke - bis auf Revisionsfahrten. Morgens, vor der Arbeit, geht mein Mann mit Borris spazieren. Borris darf frei laufen und weil nie Bahnverkehr ist, wird nicht die Unterführung genutzt, sonder der kurze Weg über dem Damm. Borris lernt gerade Zeitungen zu lesen, muss sich voll auf seine Tätigkeit konzentrieren, während mein Mann bereits den Damm überquert hat und auf dem Feldweg läuft. Plötzlich zerreist ein schriller Pfiff, wie ihn nur Rangierloks ausstoßen können, die Ruhe des Morgens, Borris läuft in panischem Schrecken vom Gleisbett runter aufs freie Feld und ist binnen kürzester Zeit aus dem Blickfeld meines Mannes entschwunden. Seine Suche ist vergeblich und so kommt mein Mann ohne Borris zurück und übergibt mir die Hundeleine, er muss auf Arbeit fahren. Mein Mann ist kaum zur Arbeit losgefahren, als ich Borris vorne zur Haustür herein lasse. Nach diesem Erlebnis muss man, sofern Borris an der Leine ist, diese richtig ernsthaft festhalten, sowie eine Lok pfeift, oder ein Traktor oder LKW hupt. Befindet er sich im Moment der ihn störenden Geräuschentwicklung nicht an der Leine, so bleibt einem nur wieder nach Hause zugehen, um dem geduldig wartenden Hund die Haustür zu öffnen. Zurückpfeifen lässt sich Borris nicht.
Merkwürdigerweise gehört zu den Borris störenden Geräuschen auch das Klicken einer Kamera, schließlich kann man nicht behaupten, dass Borris nicht fotogen wäre. Das Klicken einer Kamera stört ihn auch bei weiter Entfernung, zumindest im Freien. Leider.
Salums, 12/1979
Obwohl es mir bekannt ist, fotografiere ich ihn gerne. So auch, als wir über Weihnachten bei meinen Eltern in der Schweiz sind. Kaum ist das Bild auf Zelluloid gebannt, sieht mich Borris strafend an und verschwindet in Richtung Wald. Keine gute Idee, schließlich werden freilaufende Hunde als streunende Hund qualifiziert und sind zum Abschuss freigegeben. Die ganze Familie bricht auf, um den Ausreißer zu suchen, nach zwei Stunden ist der Schneefall so dicht, dass nichts mehr zu sehen ist, bei jedem Schritt muss man sich durch 70 cm Neuschnee kämpfen. Ich gebe die Suche auf, doch gehe ich bald alle 10 Minuten vor die Tür und Rufe nach Borris. Wir können ihn in diesem Schneechaos nicht finden, jetzt kann nur Borris sich selbst retten, in dem er den Weg zurück findet.
Auch wenn die Wolken sich verziehen, es wird viel zu früh dunkel, Borris ist immer noch vom tiefen Schnee verschluckt, was hilft es da, dass Mond und Sterne um die Wette funkeln? Wieder und wieder gehe ich an die Haustür, sehe um die Hausecke nach unten, doch ich sehe nichts als eine dicke Schneedecke und weiter unter mir den Waldrand mit den hohen dunklen Tannenbäumen. Kein ideales Gebiet, um alleine im Schnee umher zu irren, zumal auf der anderen Seite des Walds die Alm ein jähes Ende findet und sich einige hundert Meter weiter unten der Hinterrhein sein Bett durch die Felsen gefressen hat. Die Abendessens-Zeit ist schon lange vorbei, ich gehe wieder an die Haustür und vor zur Hausecke, der Schnee hat die Treppe zur Souterrain unpassierbar gemacht, angestrengt sehe ich in die Dunkelheit, erneut hat Schneefall eingesetzt. Ich gehe in die Knie und flüstere mehr, als ich ruft "Borris, Borris, komm, das schaffst du jetzt auch noch!" Ich strecke meine Arme aus und ziehe die letzten beiden Stufen mein völlig entkräftetes und über und über mit Schneeklumpen bedecktes Hundekind hoch und in die Arme. Die ganze Familie steht um uns beide herum, als ich mich auf sein Hundekissen setzte und Schneeklumpen für Schneeklumpen aus seinem Fell zupfte. Mit einem Handtuch zugedeckt, lag er anschließend matt auf seinem Kissen, während meine Schwester, geübt darin kleine Kinder von der Nahrungsaufnahme zu überzeugen, dem "Bieserl" Futter vor die Schnauze legte, damit er wieder zu Kräften kam.
29.12.1979
Wenn man jung ist, hat man gute Nerven, also durfte Borris sich überwiegend frei bewegen. Er war auch sehr folgsam, schließlich gab es ja auch nur zwei Möglichkeiten, entweder er kam, oder er kam nicht. Langsam kam die Zeit, in der Borris, schließlich wog unser kleiner Wonneproppen im zarten Alter von 6 Monaten 24 kg, sein Babyfell -Unterfell - mit dichtem Deckhaar zu schützen begann und gleichzeitig die Übung sein Bein zu heben trefflich perfektionierte. Einher mit der Perfektion des Beinhebens ging, dass Borris jedem, wirklich jedem, Weiberrock nach sah.

Wir waren im Januar kaum aus der Schweiz zurück, als Borris krank wurde. Richtig ernsthaft. Unser Tierarzt diagnostizierte, dass Borris sich mit der Katzenseuche infiziert hatte. Aus unserem Wonneproppen wurde innerhalb von 4 Tagen ein schlankes Hundekind  von 16 kg. Borris erreichte nie mehr seine kräftige Statue, bis ins hohe Alter erreichte er kein höheres Gewicht als 22 kg und hatte damit ungefähr 10 kg Untergewicht, etwas, was von seinem dichten Fellkleid stehts gut verborgen gehalten wurde. Aber Borris und ich hatten Glück, die Katzenseuche blieb seine einzige ernsthafte Erkrankung. Natürlich war die Genesung von der Katzenseuche schwierig. Borris hatte Kamillentee, geschmacklich aufgebessert durch Medizin, verordnet bekommen, ab und an durfte er sich auch an einem Klecks Haferbrei laben. Weder Kamillentee, noch Haferbrei fanden Gnade vor seiner Zunge. Und so kam es, wie es kommen muss, ich erwischte Borris dabei wie er, dem Mann im Haus sei dank, seinen Durst aus der Toilettenschüssel stillte.

Mit der wärmen Jahreszeit begannen auch wieder die ausgedehnteren Spaziergänge von Borris und mir Richtung Scheftheimer Wiesen und Steinbrücker Teich. Oft verließen Borris und ich die Wege, die sich durch den Wald schlängelten. Meist, ich gebe es zu, weil meine Gedanken nicht wirklich in der Gegenwart weilten. Und Borris, an der kurzen Leine, bekam dann den Auftrag von mir, mich wieder nach Hause zu bringe. Etwas, was er mit größter Präzession und in kürzester Frist, durchführte, selbstverständlich ab der vorgeschriebenen Wege, lediglich die Wildwechsel- und Fußgängerbrücke über die B26 verfehlte er nie.
Turbulent konnte der Spaziergang werden, gingen wir zusammen mit seiner Mutter Kia und deren Zweibeinerin, zu Silke und Peter hatte sich inzwischen eine schöne Freundschaft entwickelt, spazieren. Da kam es schon einmal vor, dass Borris so sehr mit seiner Mutter Kia tobte, dass er im ausgelassen Spiel von hinten mit Schwung in mich rein lief. Dies endete damit, daß ich mich rückwärts auf dem Feldweg flachlegte. Kia hatte etwas ernstes an sich, meine Mutter fand die rabenschwarze Kia furchteinflössend, Borris hingegen hatte von seiner Optik her mehr die Ausstrahlung eines Kuscheltieres. Eine Einschätzung, die folgenschwer enden konnte. So ging es auch einem Spaziergänger, der mit seinem Cocker Spaniel unseren Weg kreuzte. Kia und Borris hatten gerade ausführlich miteinander getobt, lagen im Schatten einer Kastanie und warteten geduldig auf das Ende der Unterhaltung zwischen Silke und mir, wir waren in Holunderernte vertieft, als der Cocker Spaniel, eindeutig ein Rüde, zu mir kam und andeutete, als wolle er mich markieren. Borris, der in 10 Meter Entfernung lag, stand auf und knurrte warnend. Ich bat den Halter des Spaniels, seinen Hund zurück zu pfeifen, doch dieser lächelte nur dazu, nahm die Warnung von mir und Borris nicht ernst. Da der Spaniel nicht von meinem Bein wich, drängte sich Borris schützend vor mich und schob dabei den Spaniel zu Seite, woraufhin dieser seine Schnauze, allerdings nicht aus freundschaftlicher Zuneigung, zeternd ins Fell von Borris vergrub. Nochmals bat ich den Hundehalter darum, dass er seine Spaniel zur Räson rief, doch dieser meinte dazu nur, warum, mein Hund wäre doch lammfromm. Weniger, weil sich Borris in seiner Ehre gekränkt fühlte eher, weil Borris einen ausgesprochenen Beschützerinstinkt mir gegenüber entwickelt hatte und gleichzeitig ihm der Spaniel mächtig auf die Nerven ging, packte er diesen im Knick, zog ihn sich aus dem Fell und warf diesen dann fünf Meter durch die Luft, seinem Herrchen vor die Füße. Borris beherrscht den Griff einer Tiermutter so gut, dass noch nicht einmal das Fell des Spaniels feucht geworden war. Die Menschen schwiegen, auch die Hunde gaben keinen Laut von sich, Kia stand stramm vor Silke und Borris stand vor mir, seinen Blick starr auf den Cocker Spaniel gerichtet. Ohne ein weiteres Wort entfernten sich Herr und Spaniel zügig in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

Borris und ich wohnten inzwischen allein im Haus, als eines Nachmittags der Nachbarsjunge zu mir kam, er sollte Nachhilfe in BWL für die Abschlussarbeit über sich ergehen lassen. Zwar hat der Nachbarsjunge im Anschluss sein Prüfung mit Bravour bestanden, doch hat es seine Eltern ein Paar Jeans gekostet, hatte doch Borris die Zeit der Nachhilfe genutzt, um ein Hosenbein bis zum Knie hinauf zu zerkauen.

- wird fortgesetzt...

1 Kommentar:

  1. Natürlich kann auch vermerkt werden, wenn man über eines der Tiere besonders lachen musste, oder man näheres zu diesem erfahren möchte. Die Tiere haben alle gelebt und das hier festgehaltene erlebt.

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Ich bin für produktive Kommentare dankbar.